Ритмы истории
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Der gesellschaftliche Wandel, von dem im folgenden die Rede sein soll, hat sich in der Geschichte des Abendlandes zweimal vollzogen und ist zur Zeit wieder im Gange: Diese historischen posttraditionellen Phasen sind die Sp"atantike und die Renaissance. Die traditionellen Phasen sind also vom Typ der antiken Gesellschaft, der mittelalterlichen Gesellschaft und der Gesellschaft der Neuzeit.
Traditionelle Gesellschaften wandeln sich demnach durchaus, aber so, dass ihr grunds"atzliches Weltverst"andnis in kleinen Zeitr"aumen nicht wesentlich ge"andert wird. Kriegerische, wirtschaftliche Ereignisse und epidemische Krankheiten k"onnen in der traditionellen Gesellschaft zu gravierenden soziologischen Verwerfungen f"uhren, sie "andern jedoch nichts an der Stabilit"at der Begriffsgef"uge und daran, dass die Gesellschaft «philosophische Stabilit"at“ beh"alt.
Stabil ist die traditionelle Gesellschaft, im philosophischen Sinne, weil die Art, wie die Welt erkl"art wird, welche Fragen man an die Welt stellt oder welches Wissen man "uber sie hat, unver"andert bleibt, und weil der Erfahrungsraum, die Summe der Erfahrungen, die der Welterkl"arung zugrunde liegen, "uber jedem kleineren Wandel unver"andert bleiben und deshalb auch das Handeln der Einzelnen und der Gesellschaft in einem "ahnlichen Rahmen verbleibt.
Unver"andert bleibt dies, weil die grundlegenden Begriffe unver"andert bleiben, und dies geschieht, weil das Gef"uge von Welterkl"arung und Erfahrung sowie Handeln konsistent bleibt und keine nennenswerten Widerspr"uche oder Unentscheidbarkeiten im Handeln auf Grund der Erkl"arung der Erfahrung auftreten. Die Menschen empfinden ihr Verhalten dann als nicht mit ihrem Wissen konfligierend.
Insofern existiert ein stiller und nicht abgesprochener Konsens. Im Rahmen einer geringf"ugigen Variabilit"at sind Handlungen konsent, oder es ist wenigstens konsent, dass und welche Handlungen auf keinen Fall akzeptiert werden sollen. Ver"anderungen im Verst"andnis sind in das bestehende Begriffsgef"uge integrierbar. Im allgemeinen herrscht in der traditionellen Gesellschaft keine Uneinigkeit "uber Bewertungen oder Werte.
Mit dem sehr weitgehenden homogenen Verst"andnis von Welt geht damit eine weitgehende "Ubereinstimmung von Werten, Normen und deren Begr"undung bzw. Rechtfertigung einher. Die traditionelle Gesellschaft tradiert ihre Kultur "uber mehrere Generationen unver"andert; Begrifflichkeiten, Werte und Normenbegr"undung wandeln sich ausserordentlich langsam und sind deshalb "uber grosse Zeitr"aume weitgehend stabil. Ja, die Stabilit"at von Begriffen und Werten ist selbst ein Wert der traditionellen Gesellschaft.
Auch in der traditionellen Gesellschaft werden Beobachtungen, Entdeckungen und Erfahrungen gemacht, die "uber den "uberlieferten Erfahrungsraum hinausgehen. Solange sie durch geringf"ugige "Anderungen von Begriffen integriert werden k"onnen und auf die "Anderung einzelner Begriffe beschr"ankt bleiben, wird dies die traditionelle Gesellschaft nicht "andern. Zu ihrem zeitlichen Ende hin treten aber in der traditionellen Gesellschaft "Anderungen auf, wenn grundlegende Begriffe ge"andert werden und in der Folge davon zunehmend weitere Begriffe ge"andert werden m"ussen, um eine innere Konsistenz der Erkl"arungen des Erfahrungsraumes zu erreichen. Dann wandeln sich auch Normen. Insbesondere gilt es dann nicht mehr als akzeptabel, Begriffe, Werte und Normen stabil zu halten. Stabilit"at — im philosophischen Sinne — gilt nun nicht als ein w"unschenswerter Wert.
Die posttraditionelle Gesellschaft ist – philosophisch gesehen – eine Kulturform, die in einem engen Zeitraum von wenigen (100–150) Jahren die vollst"andige Umstellung eines Erkl"arungskonzeptes von Welt vollzieht – und zwar f"ur alle Existenzbereiche, die als erkl"arenswert angesehen werden. Dabei wird auf einen Teilbereich des bisherigen Erfahrungsraumes verzichtet, und es bleiben Ph"anomene, die man zuvor mit dem alten Erkl"arungskonzept erkl"aren konnte, unerkl"art. Das neue Erkl"arungskonzept einer zuk"unftigen traditionellen Gesellschaft wird in der posttraditionellen Gesellschaft vorbereitet, und die Zeit der posttraditionellen Gesellschaft markiert den "Ubergang von einem fr"uheren zu einem vollst"andig neuen Erkl"arungskonzept.
Es ist die Aufgabe der posttraditionellen Gesellschaft, die in Inkonsistenz geratenen Erkl"arungskonzepte f"ur die vorhandenen Erfahrungen in einen neuen stabilen Zustand, d.h. zu neuen Erkl"arungskonzepten zu f"uhren.
Damit ist die posttraditionelle Gesellschaft davon gepr"agt, dass kein einheitliches Erkl"arungskonzept akzeptiert wird, wohl aber eine Vielzahl von Versuchen, Konsistenz zwischen Erkl"arung und Erfahrungen zu schaffen, nebeneinander existieren.
Es ist deshalb auch eine gr"ossere Toleranz gegen"uber ausgefallenen Konzepten notwendig und "ublich. Damit geht einher, dass es nur einen geringen Konsens "uber allgemein g"ultige Erkl"arungen und Werte gibt. Wenn es ihn gibt, dann nur in soziologisch umschreibbaren engen Gruppen. Nur f"ur wenige Fragestellungen haben diese Gruppen eine Identit"at. Die "ubrigen Erkl"arungen und Werte werden von den einzelnen Mitgliedern einer Verstehensgemeinschaft in der posttraditionellen Gesellschaft nicht immer als konsistent erlebt. Begriffe und damit die Erkl"arungskonzepte wandeln sich st"andig. Bildungssysteme k"onnen bereits w"ahrend ihrer Entwicklung und Modifikation veralten. Der Begriffs–und Wertewandel akzeleriert.
Die Tradierung von Wissen und Bildung wird nicht mehr "uber mehrere Generationen gef"uhrt, sondern kann sich punktuell in der gleichen Generation zu unterschiedlichen, ja sich ausschliessenden Konzepten wandeln.
Wenn die posttraditionelle Gesellschaft zu konsistenten f"ur alle Erfahrungsbereiche konvergenten Erkl"arungen und Begriffen kommt, f"uhrt sie vorw"arts in eine traditionelle Gesellschaft, die sich aber grundlegend von derjenigen unterscheidet, von der diese posttraditionelle Gesellschaft startete.
Die Kultur einer Gesellschaft ist wesentlich davon getragen, wie Erfahrungen, deren theoretische Erkl"arung und das daraus folgende Handeln miteinander verbunden werden.
Dem Alltagsleben, wie auch der Wissenschaft, sowohl den Geistes–als auch den Naturwissenschaften, liegt ein Beziehungsgeflecht von Erfahrung, Erkl"arung und Handeln zu Grunde, die sich nicht einzeln konstituieren, sondern immer nur in ihrem Verbund sind, was sie sind. Durch Handeln erwerben wir Erfahrungen, die nur deshalb, weil wir ihnen – implizit oder explizit – eine Erkl"arung zugrunde legen, erfahrbar sind. Erfahrungen aber gehen auch jeder Handlung voraus, die wir nur vollziehen, weil wir aus unserer bisherigen Erfahrung und deren theoretischer Erkl"arung erwarten d"urfen, dass sie zuk"unftig ein bestimmtes Resultat bewirken. Die theoretischen Erkl"arungen m"ussen jeder Handlung vorausgehen, damit wir das Handlungsresultat "uberhaupt als Resultat unserer Handlung und damit als Grundlage und Prognoseinstrument f"ur weitere Handlungen verstehen k"onnen. Das Zusammenwirken konsistenter Handlung, Begriffen und Erfahrung, die immer zugleich auftreten, ist grundlegend f"ur jede menschliche Existenz. Vorausgesetzt wird dabei nicht, dass die Konsistenz"uberlegungen bei jeder Handlung im einzelnen rational vollzogen werden, vielmehr gilt f"ur die allt"aglichen Handlungen, dass sie routiniert "uber eingefahrene Schemata ablaufen. Fast immer verhalten wir uns, wie wir uns verhalten, weil wir uns in vergleichbaren Situationen schon immer so verhalten. Wir k"onnen dieses Verhalten ex post erkl"aren und eine Konsistenz sowohl mit den "ubrigen Erkl"arungskonzepten, den Begriffen, die wir haben, feststellen, als auch mit den "ubrigen Erfahrungen, die uns pr"asent sind und deren Erkl"arung die Koh"arenz unserer Handlungen "uberpr"ufbar macht.
Das, was die koh"arenten Einzelelemente unseres Wissens sind, macht kontinuierliche R"aume aus: den Erfahrungsraum, den Handlungsraum und das Gef"uge der zu Theorien verdichteten Begriffe. W"ahrend jeder ihrer Handlungen freilich "uberpr"ufen Individuen implizit ihre Schemata und ver"andern sie geringf"ugig. Dies geschieht, wenn unser Erfahrungsraum erweitert wird. Wenn wir h"aufiger Erfahrungen machen, die uns so bislang nicht bekannt sind, suchen wir nach neuen Erkl"arungen, um m"ogliche zuk"unftige Handlungen vor dem Hintergrund dieser Erfahrungen absehbar zu machen. Wir erweitern unseren Erfahrungsraum. Zun"achst sucht man in dem bestehenden Wissensbestand, ob f"ur diese Erfahrungen bereits von anderen Individuen der Verstehensgemeinschaft Erkl"arungen (Begriffe) bekannt sind. Wenn dies nicht der Fall ist, wird f"ur die Erfahrung, wegen der m"oglichen sich daraus ergebenden Handlungen von Individuen, eine neue Erkl"arung oder neue Begriffe gesucht. Wenn dar"uber hinaus diese den Kulturtr"agern der Gesellschaft interessant genug erscheint, d"urfen wir erwarten, dass diese ver"anderten Erkl"arungen hinreichend in der Gesellschaft kommuniziert werden und zum Allgemeingut werden. Die
Geringf"ugige "Anderungen vertr"agt das Erkl"arungssystem, d.h. das Gef"uge von Begriffen und Theorien, ohne dass es als ein neues Erkl"arungskonzept erscheint, denn Modifikationen von Bedeutungen und Bewertungen sind Teil des aktiven Verstehens. Begriffe, und das sind die Elemente der Erkl"arungskonzepte, sind – in Grenzen – bedeutungsunscharf ausgelegt. Mit jedem Begriff denken wir eine explizite Bedeutung und einen impliziten Bedeutungsgehalt. Die explizite Bedeutung bezeichnet den gedachten Sachverhalt. Der implizite (oder latente) Bedeutungsgehalt enth"alt Hinweise auf Konnotationen, Kontexte, und Verwendungsm"oglichkeiten, unter denen wir die Begriffe konsistent mit der Erfahrung und anderen Begriffen nutzen d"urfen. Auch eine Bewertung wird mit dem Begriff verbunden: Unter dieser Werthaltung assoziieren wir den Rang des Begriffs in der Begriffshierarchie der Erkl"arungen und auch die Wertigkeit, die die Erkl"arung f"ur eine m"ogliche Handlung aufgrund der in diesem Begriff enthaltenen Konsequenz hat. [8]
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Ausf"uhrlicher werden diese Sachverhalte dargelegt in:
Wolfgang Neuser: Die Logik des Entwurfs. Verstehen als Konstruktion von Wirklichkeit, in: System und Struktur. V/1, 1997, 7–21.
Wolfgang Neuser: Nichtwissen. Eine konstitutive Bedingung f"ur den Entwurf von Welt, in: Wissensmanagement. Zwischen Wissen und Nichtwissen, hrsg. von K. G"otz, M"unchen, Meringen 1999, 85–98.
Wolfgang Neuser: Philosophie an einer technisch–naturwissenschaftlichen Universit"at, in: H. Hofrichter, Visionen, Kaiserslautern 2002, 103–110.
Wolfgang Neuser: Ethische Dimensionen des Nichtwissens. Ver"offentlichung des Japanisch–Deutschen Zentrums, Berlin 2002. Im Druck.
Wolfgang Neuser: Natur und Begriff, Stuttgart/Weimar/New York 1995.